Die Sichtweise der Sozialisten und Kommunisten gegenüber der Religion:

“Wie hatten zuletzt behandelt, wie die Religion in der kapitalistischen Gesellschaft fortdauert und im besonderen, wie die ökonomische und gesellschaftliche Rolle der verschiedenen Klassen ihre Stellung in der Religion bestimmt. Ich gehe jetzt dazu über, kurz die verschiedenen Standpunkte zu schildern, die man in der Betrachtunh der Religion einnehmen kann.

Es sind hier zwei wesentlich verschiedene Standpunkte vorhanden. Der eine ist der Standpunkt des Rationalismus. Für diesen Standpunkt ist kennzeichnend, daß die Religion betrachtet wird einfach als etwas, das unvernünftig ist und für das genügende Aufklärung hinreichend ist, um sie aus den Köpfen zu beseitigen. Der Name Rationalismus kommt daher, daß die französischen Philosophen des XVIII. Jahrhunderts in ihrem Kampf gegen die Religion und die Kirche den Standpunkt der „Vernunft“ eingenommen haben, d. h. den Standpunkt, daß die Religion einfach etwas Unvernünftiges, ein Irrtum ist, der durch die Aufklärung beseitigt werden kann und wird. Das Kennzeichnende dieses Standpunktes ist, daß er ungeschichtlich ist. Er faßt die Religion nicht auf als etwas, das aus geschichtlichen Gründen entstanden ist und das aus anderen geschichtlichen Gründen wieder untergehen muß. Ich erwähne diesen Standpunkt besonders, weil wir ihn sehr häufig auch heute noch finden, und zwar besonders bei bürgerlichen Revolutionären oder Aufklärern. Dieser Standpunkt, obwohl er sehr radikal aussieht, ist jedoch nicht sehr wirksam in der Bekämpfung der Religion.

Der zweite Standpunkt gegenüber der Religion ist der Standpunkt, den die marxistische Wissenschaft einnimmt, der Standpunkt des dialektischen Materialismus: Dieser Standpunkt unterscheidet sich von dem Rationalismus darin, daß er sieht, daß die Religion eine geschichtliche Erscheinung ist, eine Erscheinung, die ihre Wurzeln in der materiellen Beschaffenheit der Gesellschaft hat, in ihrer Produktionsweise, so daß sie sogar zeitweilig eine fortschrittliche Rolle gespielt hat, in dem Verhältnis der Gesellschaft zur Natur und in dem Aufbau der Gesellschaft selbst. Diese Auffassung bekämpft die Religion von dem Gesichtspunkt aus, daß sie jetzt ein Hindernis der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung geworden ist, daß sie aber in der kapitalistischen Gesellschaft noch materielle Wurzeln hat, und daraus folgt praktisch für diesen Standpunkt, daß es nicht genügt, einfach durch Aufklärung die Religion zu beseitigen, sondern daß man an die materiellen Wurzeln der Religion greifen muß, an die Produktionsweise, um sie völlig zu entwurzeln.

Dabei handelt es sich um zweierlei: einmal um die Ersetzung der heutigen kapitalistischen Klassenordnung durch die klassenlose sozialistische Gesellschaft. Dadurch schwindet die stärkste Wurzel der Religion, die darin besteht, daß die kapitalistische Gesellschaft ihr eigenes Schicksal nicht beherrscht, sondern von ihm beherrscht wird. Mit dem Uebergang zur sozialistischen Produktionsweise wird auch das Verhältnis der Gesellschaft und das des Einzelnen zur Natur verändert. Die *sozialistische, klassenlose Gesellschaft beruht, was ihre Technik anbelangt, auf den Errungenschaften, die der Kapitalismus hinterläßt, und steigert sie aufs höchste.

Also diese beiden Ursachen der religiösen Phantastik können nicht allein durch Aufklärung, sondern sie können letzten Endes nur durch eine vollkommene soziale Umwälzung beseitigt werden.

Das schließt nicht die Notwendigkeit der antireligiösen Aufklärungsarbeit aus, denn diese Aufklärungsarbeit sęlbst ist ja mit ein Moment der Vorbereitung der Revolution selbst. Aber es lehrt die Wirkung dieser Aufklärungsarbeit richtig einschätzen und sie richtig in die Gesamtarbeit der revolutionären Vorbereitung einordnen: als einen Teil von ihr, der dem Ganzen und insbesondere dem politischen und ökonomischen Kampf untergeordnet ist. Und so lehrt diese Auffassung auch die Aufklärungsarbeit gegen die Religion am zweckmäßigsten und am wirksamsten zu machen.

Nun will ich noch sprechen über die grundsätzliche und praktische Stellung der Kommunistischen Partei zur Religion. Was die Partei anbelangt, so wissen Sie ja, daß die Partei eine freiwillige Vereinigung von Menschen ist, die grundsätzlich auf demselben Standpunkt stehen. Der grundsätzliche Standpunkt des **Kommunismus ist der des dialektischen Materialismus. Daraus geht hervor, daß in der Kommunistischen Partei selbst von jedem Mitglied gefordert wird, daß es sich von den religiösen Vorstellungen befreit hat oder befreit und sich auf den Standpunkt des dialektischen Materialismus stellt. Wer noch von religiösen Vorstellungen befangen ist und dabei stehen bleibt, kann daher dem Wesen der Sache nach nicht Mitglied der Kommunistischen Partei sein.

Sie wissen ferner, daß jeder, der hier in Rußland der Kommunistischen Partei beitreten will, eine gewisse Vorschule durchzumachen hat, worin ihm dieser Standpunkt auseinandergesetzt wird. Es ergibt sich daraus auch, daß die Partei als solche eine antireligiöse Propaganda treibt. Die Partei wirkt auch durch die Vermittlung der Schule dahin, um den religiösen Aberglauben aus den Köpfen der jüngeren Generation zu vertreiben oder ihn nicht erst aufkommen zu lassen. Was die Stellung der Religion im Sowjetstaate überhaupt anbelangt, so ist das etwas anderes als in der Kommunistischen Partei selbst. Die Kommunistische Partei ist ein freiwilliger Verband Gleichgesinnter. Der Sowjetstaat ist ein Verband von Menschen der verschiedensten Gesinnungen.

Im Sowjetstaate hat jeder das Recht, die religiösen Vorstellungen zu haben und auszuüben, die er will. Es ist nur dies geändert, gegenüber den meisten, nicht allen bürgerlichen Staaten: daß derjenige, der gewisse religiöse Vorstellungen hat und gewisse Einrichtungen schaffen will, die diesen Vorstellungen dienen, aus der eigenen Tasche dafür zahlen muß. Der Sowjetstaat verhält sich völlig neutral gegenüber allen kírchlichen Gemeinschaften. Sie müssen für sich selbst sorgen: für den Unterhalt ihrer kirchlichen Gebäude, ihrer Priester usw. Und noch eine zweite Bedingung ist zu erfüllen. Sie besteht darin, daß die religiösen Gemeinschaften keine konterrevolutionäre Agitation gegen den Sowjetstaat betreiben. Wie Sie wissen, ist es öfters vorgekommen, daß Priester vor das Revolutionsgericht geladen und bestraft wurden. Aber dies geschah niemals wegen ihrer religiösen Vorstellungen, Propaganda usw., sondern wegen konterrevolutionärer Tätigkeit. Unter der Bedingung, daß die religiöse Gemeinschaft sich selbst erhält und daß sie nicht gegen den Sowjetstaat Propaganda treibt, unter diesen selbstverständlichen Bedingungen hat jede Religionsgemeinschaft in Sowjetrußland freie Möglichkeit, sich zu betätigen.

Das wichtigste Mittel, um im Sowjetstaate den religiösen Aberglauben zu beseitigen, ist neben der antireligiösen Propaganda und Erziehung der Aufbau des Sozialismus. Erst die volle materielle Freiheit des Menschen, nicht nur ihre rechtliche Freiheit, wie sie in manchen bürgerlichen Staaten auch besteht, gibt den Menschen die volle geistige Freiheit, die sie befähigt, sich von religiösen Vorstellungen zu befreien, und erst wenn diese materielle Freiheit vorhanden ist, hat die große Volksmasse auch die nötige Muße, die nötige freie Zeit, um sich wissenschaftlich und künstlerisch fortzubilden.

Man könnte fragen: Was tritt an die Stelle der Religion, wenn sie beseitigt ist, und da kann man am besten antworten mit einem Spruch des deutschen Dichters Goethe, der sagt: ,Wer Kunst und Wissenschaft hat, der hat Religion, wer Kunst und Wissenschaft nicht hat, der habe Religion“, d. h. der soll Religion haben. Was ein Mann wie Goethe nur für die kleine Zahl der Höchstgebildeten in Anspruch nahm, jedoch der großen Masse vorenthalten wollte, das wird dann Sache der Allgemeinheit.

In der bürgerlichen Gesellschaft konnten einige geistig frei werden, in der voll entwickelten sozialistischen Gesellschaft können es alle werden. Auch gegenüber dieser Tatsache müssen wir uns als dialektische Materialisten einstellen. Aus unserem ganzen Ueberblick haben wir gesehen, daß, wenn es heute ein Hindernis der gesellschaftlichen Entwicklung ist, daß nur eine kleine Anzahl Bevorrechtigter die materielle Möglichkeit haben, sich frei auszubilden, so war das früher, bei der Unentwickeltheit der Produktionskräfte unvermeidlich, um den heutigen Zustand herbeizuführen, wo bereits die Vorbedingungen für die materielle und geistige Befreiung der breiten Volksmassen geschaffen ist.

Die Befreiung einer Minderheit von unmittelbarer produktiver Arbeit, bestimmter Klassen, Kasten oder Stände, das war die Vorbedingung, damit die Naturwissenschaft, damit die Technik entwickelt werden konnte, die, sobald die notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen worden sind, die materielle Möglichkeit der freien kulturellen Entwicklung aller schafft. An diesem Beispiel wollte ich Ihnen auch zeigen, was man unter geschichtlicher Dialektik versteht. Sie haben das Wort schon verschiedentlich gehört. Aus dieser Anwendung können wir sehen, daß es bedeutet, daß eine Erscheinung, die unter besonderen Umständen notwendig ist und einen Fortschritt bedeutet, unter geänderten geschichtlichen Umständen gerade in ihr Gegenteil umschlägt, ein Hindernis der weiteren Entwicklung wird.

Wir sehen an der Rolle der Religion in verschiedenen geschichtlichen Abschnitten das allgemeine Gesetz der geschichtlichen Entwicklung beleuchtet, nämlich der Entwicklung in Gegensätzen oder in Widersprüchen. Wir werden weiter sehen, daß das Gesetz der Entwicklung in Widersprüchen nicht nur für die geschichtliche Bewegung gilt, sondern daß es ein Gesetz aller Bewegung ist.”

Diese Arbeit, die wir teilen, ist ein Artikel aus der Vorlesung der Gründer der Kommunistischen Partei Deutschlands und Theoretiker August Thalheimer (18.03.1884-19.09.1948) an der Sun-Yet-Sen-Universität.

Quelle:

August Thalheimer- Einführung in den dialektischen Materialismus (Vorträge an der Sun-Yet-Sen-Univerität Moskau 1927) (S.32-36 Dritte Vorlesung – Der griechische Materialismus)

*Die Meinung unseres Kollektives zu diesem Thema ist, dass die sozialistische Gesellschaft nicht klasenlos ist.

**Die Grundperspektive des MLM ist der diyalektische Materialismus.Unser kollektives Denken zu diesem Thema

Vorbereitet von SYM Kollektiv